Sonntag, 23. September 2012

Die Tiger-Lüge

Alle paar Monate flattert uns eine Postwurfsendung ins Haus, in welcher wir lesen, was unsere Kinder rein theoretisch so alles können müssten. Über durchschnittliche Sechsjährige hieß es in der jüngsten Publikation, dass man diese ruhig einmal "kochen oder backen lassen" sollte - vollkommen selbstständig. Die Küche, nun ja, da solle man realistisch bleiben, die müsse man danach halt schon reinigen.

Aus zwei Gründen war diese Mitteilung für uns interessant: Erstens ist Ella nun sechs und somit demnach schon seit über einem Monat in der Lage, selbstständig zu kochen oder zu backen. Zweitens haben wir momentan gar keine richtige Küche. Und wo nichts ist, kann eigentlich auch nicht so viel dreckig werden. Ella wurde also herbeizitiert. Sie solle sich doch bitteschön zwischen dem Back- und Kochhandwerk entscheiden. Klug wählte Ella das Backen aus. 
Klug war diese Entscheidung deshalb zu nennen, weil tags zuvor die Mutter einen Topf Milch überkochen ließ, was auf einem Kochfeld, welches mangels Arbeitsplatte derzeit wie von Geisterhand über offenen Küchenschränken schwebt, zu äußerst vielseitigen Folgen führt. An diesem Kochfeld sollte kein Kind kochen, ehe der wackere Holzmann unsere heiß ersehnte Arbeitsplatte geliefert hat. Somit ist die eingangs geäußerte Vermutung auch gleich schon widerlegt: Wo keine Küche ist, kann dennoch sehr viel Küche dreckig werden. 

Papa platzierte seine Tochter deshalb auch nicht in der Nähe der fehlenden Arbeitsplatte, sondern am großen Esstisch. Ein Handtuch wurde ausgelegt und dann ging's los mit Ellas Back-Performance: Souverän las Ella dem Vater die Zutatenliste vor und scheuchte ihn bald hier-, bald dorthin. Wo alles steht, Zucker und so, das wusste Ella zum Glück auch sehr gut. Der Vater nahm - dies beschäftigt ihn derzeit ein bisschen - erneut eine dem Kinde vollkommen untergeordnete Position ein.
Dann schlug Ella erstaunlich geschickt Eier auf und schüttete immer mehr Zutaten in die Schüssel, mixte alles durch und präsentierte schließlich einen Super-Schokoladenkuchen. Ella kann also Brötchen kaufen und Kuchen backen und weitere eintausend Dinge. Langsam fängt die Sache mit den Kindern an, praktisch zu werden. 
Außerdem sind wir ja nun schon Profis und kennen die Tricks, mit denen auch weniger kooperativen Kindern Beine gemacht werden können. Bei Oscar jedenfalls nutzen wir dessen Usain-Bolt-Leidenschaft, ihn in allen möglichen Lebenssitautionen zum Laufen oder zum generellen Ausüben einer gewünschten Tätigkeit zu bringen. Vor dem Zähneputzen gibt es jedenfalls nun immer einen Tiefstart im Kinderzimmer. Wie Usain Bolt vor dem 100 Meter Finale kniet Oscar im Kinderzimmer. Bei "Fertig" muss der Hintern hoch, das weiß Oscar auch. Bei "Los" flitzt Oscar unter großen Anfeuerungsrufen ins Badezimmer, wo er sich dann seine Usain-Bolt-Zähne putzt. Auch Nudeln können in Usain-Bolt-Manier vom eben noch herum mäkelnden Kinde verschlungen werden. Schuhe anziehen... Ins Bett gehen... all das läuft momentan ganz problemlos und im jamaikanischen Tempo.

Sind eigentlich beide Kinder so richtig klug? Diese Frage stellen wir uns, wie alle Eltern, schon hin und wieder mal. Ella versucht ihre offensichtliche Klugheit nicht unbedingt vor ihren Mitmenschen zu verstecken, weitaus spannender ist es daher, Oscars Intellekt zu messen, der sich teilweise hinter einer Maske des Blödsinns gut verbarrikadiert. In Oscar aber schlummern auch Dinge, mit denen man angeben kann. Oscar kennt nämlich zum Beispiel das Wappen vom FC Erzgebirge Aue. 
Mama saß am PC, den Sohnemann auf dem Schoß. Die Kicker-Seite wurde aufgerufen. In der zweiten Liga gab es einige Ergebnisse zu begutachten. Dann schält sich Oscar langsam Richtung Monitor. Er deutet auf eines der 18 winzigen, kaum mit dem menschlichen Auge zu erkennenden Wappen, es ist das Wappen von Erzgebirge Aue und Oscar spricht: "Da. Das ist doch Aue, oder?"
Verwunderung überall. 
Stunden später laufen die Nachrichten. Opel präsentiert zwei neue Modelle. Das Wappen des Automobilherstellers wird gezeigt. Ella sagt: "Das Opel-Zeichen sieht ein bisschen aus wie das Wappen von Paderborn". Mama versteht nur Bahnhof. Papa holt die Tabelle her, zeigt Mama das Wappen des SC Paderborn und alle erkennen, dass tatsächlich kein Wappen der ersten und zweiten Liga mehr Ähnlichkeit mit dem Opel-Zeichen aufweist als das des SC Paderborn. 
Aue und Paderborn. Wir befinden uns hiermit im Bereich des Spezialwissens und sind sehr stolz auf unsere Kinder. 

Gruselig allerdings war es in der Nacht zum Sonntag. Denn wenn zwei Kinder, die in den letzten Wochen keinerlei übertriebene Angstzustände zeigten, innerhalb von zwei Stunden unabhängig voneinander von Spukerscheinungen berichten, dann kommen auch die Eltern ins Wanken. Spukt es?
Gegen 21:00 jedenfalls brach bei Oscar große Panik aus. Ein Löwe sei in seinem Zimmer. Oscar habe ihn rascheln hören.

Papa und Oscar suchten das Zimmer nun nach dem raschelnden Raubtier ab. Schubläden wurden geöffnet, hinter Vorhänge wurde gelinst. Oscars Blick voller Sorge. Kein Löwe. Kein Rascheln. Kein Löwe also mit einer Zeitung oder einer Tüte Kekse.
Oscar wechselte die Betreuungsperson und latschte zur Mutter. Papa aber hörte genau, dass sein Sohn nun den Bereich der Übertreibung und Unaufrichtigkeit betrat, denn er hörte genau, wie Oscar seiner Mama ins Ohr flüsterte, in seinem Zimmer befänden sich ein Löwe und ein Tiger. Hier log jemand. Von einem Tiger war zuvor nie die Rede. Papa, den raschelnden Löwen suchend, war sauer.

Gegen 23:00, Oscar schlummerte friedlich im vollkommen raubtierfreien Elternbett, ein  gellender Schrei aus Ellas Zimmer. "D-d-d-d-das ist der G-g-g-geist", brüllte Ella in die Gesichter der Eltern und krallte sich in deren Arme - Es war wirklich gruselig, was die Kinder in dieser Nacht mit uns machten.
Ella wurde zuvor Opfer einer der spannendsten Stellen der Bibi-Blocksberg-Reihe. Ein Geist als Patient bei einem Zahnarzt. Und dieser Zahnarzt ist in Wirklichkeit dann auch irgendwie ein Geist... irgendwie so... oder auch anders - noch gruseliger. Das Kind jedenfalls bebte vor Angst, die Wohnung bebte vor Geschrei.

Ella wurde neben den schlafenden Oscar gelegt. Bevor die Eltern eine Stunde später ins Bett gingen, trugen sie eines der nun friedlich schlafenden Kinder wieder in dessen eigenes Bett. Welches? Natürlich das leichtere.

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