Montag, 21. Mai 2012

Der Dachstunnel

Es war wohl so, dass die alte Oma wusste, dass sie nun alles erreicht hat. Als Ella und Oscar Ende Dezember nämlich ein letztes Mal bei Ihr zu Besuch waren, da hatte sie endlich auch Oscar geknackt. Oscar verabredete sich an diesem Wintertag mit seiner Uroma. Er würde gerne mal bei ihr übernachten, sagte er seiner begeisterten Uroma und seinen ratlosen Eltern. Uroma und Oscar freuten sich schon. Dann, an einem Mittwochmorgen fünf Monate später, ist die Uroma  eingeschlafen und einfach nicht mehr wach geworden.

Oscar dagegen wurde an diesem Morgen sehr wohl wach, tapste durch die Wohnung, sah, dass seine Eltern Kummer hatten und sagte mit seinen drei Jahren seiner Mama, die an diesem Mittwochmorgen so tieftraurig war, die unglaublichen Worte "Mama, ich hab dich so lieb, dass es wehtut." Ganz doll presste sich der Kleine an seine Mama.

Oscar, das wusste er wohl auch, musste ja auch für zwei Kinder trösten, er hatte so niedlich und lieb wie zwei Kinder zu sein. Ella war zu diesem Zeitpunkt nämlich auf ihrer Kinderladen-Reise im mittlerweile vertrauten Ollendorf, ritt dort auf Ponys und brach aus einem Pferdestall aus, der Gefängnis spielen musste, schaffte dies als einziges Gefangenen-Kind und saß danach triumphierend auf der Stalltür. Man beachte auf dem Foto die hilflosen Hände der anderen Kinder, die vermutlich noch immer im Pferdestall Gefangene spielen. Ella kann klettern. Fast so gut wie dieser Franzose, der immer auf Häuser steigt.

Zuvor und auch danach erlebte sie in Ollendorf weitere großartige Dinge. Zumindest die etwa 300 Fotos, die von der Reise existieren und von uns begutachtet wurden, sprechen eine eindeutige Sprache. Hier wird Pizza gemacht, dort getöpfert, hier ein Meerschweinchen im Arm, dort ein Grillabend. Zum Frühstück allerlei Süßkram... Aber als sich Ellas Papa am Bahnhof beim Reiseteilnehmer Janek nach dem Spaßfaktor auf der Kinderladenreise erkundigte, da sprach dieser Superheld "war langweilig" in die Mikrofone. Es handelte sich - wie sich später zeigte - um eine aalglatte Lüge, denn auch Janek, so die Fotos, hatte Spaß.

Die Erzieher im Übrigen auch. "Es war sehr entspannt", sagte die eine. "Die Kinder haben alle super geschlafen", sagte die andere. Bei näherem Nachfragen stellte sich zwar heraus, dass Ella in der Nacht aus ihrem Bett direkt ins Gesicht einer Erzieherin fiel, dass dabei beide Beteiligten wach wurden, sich kurz in die Augen sahen und Ella dann "Gute Nacht" sagte, aber das kann man durchaus mal als "super geschlafen" bezeichnen, denn hier sind nachts gerade in den Wochen vor der Ollendorf-Fahrt ganz andere Dinge geschehen. Ein ins Gesicht fallendes Kind, das danach noch artig "Gute Nacht" sagt, hätten wir jederzeit gegen das diffus schreiende Kind eingetauscht, in dessen regungslos wimmerndes Gesicht wir in einigen vergangen Nächten irgendwelche Schlaf-Argumente sprachen.

Vorbei das. Aus Ollendorf kam Ella - wie nach jedem Kurzurlaub - irgendwie erwachsen zurück. Noch hält es an, aber die nächste Kleinkind-Phase ist genauso zuverlässig im Anmarsch wie irgendein Tiefdruckgebiet, das sich gerade über Island zusammenbraut. Noch scheint hier die Sonne. Der Regen wird aber kommen.

Zu Hause bekamen Ella und Oscar dann ein neues Buch vorgelesen. Ein lieber alter Dachs geht durch einen langen seltsamen Tunnel, fühlt sich plötzlich ganz leicht und kriecht am nächsten Tag nicht mehr aus der Höhle. Die anderen Tiere sind natürlich traurig, aber am Schluss überwiegen bei allen die vielen tollen Dachs-Erinnerungen. Ella und Oscar haben das mit der alten Oma jetzt so ungefähr verstanden.

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