Montag, 2. Januar 2012

Zweierlei Milch


Das Jahr 2012 war erst wenige Stunden alt, da gewährte uns Oscar einen tiefen Einblick in sein bei Lichte betrachtet noch recht unfertiges Hirn:
Am Frühstückstisch in Magdeburg, wo man den Jahreswechsel beging, orderte Oscar einen Kakao. Der Kakao, so Oscar schon leicht wimmernd in Richtung Küche, möge aber kein Kakao aus Kakaopulver sein.

Oscar bekam das Getränk gereicht. Es handelte sich um normale Milch. Kuh-Milch, wie Oscar immer betont, um klarzustellen, dass er keine Waranmilch oder Antilopenmilch möchte.
In diese Milch kippte nun jemand Kakaopulver. Oscar war entsetzt. Das neue Jahr war um 10.00 Uhr an diesem 1.Januar schon im Eimer. "Keinen Pulverkakao" schluchzte Oscar und niedliche Tränen rannen über sein Gesicht. "Ich will Kakaomilch."

Langsam dämmerte es in den verkaterten Schädeln der Erwachsenen. Hier unterscheidet jemand zweierlei Arten von Milch, die nichts miteinander gemein haben: Zum einen ist da die Kuhmilch. Zum anderen ist da die Kakaomilch, die demnach nicht von der Kuh stammt. Kippt man nämlich Kakaopulver in Kuhmilch, so erhält man keineswegs Kakaomilch, sondern Milch mit Kakaopulver. Wahrscheinlich verhält sich Kakaomilch zu Milch mit Kakaopulver ungefähr so wie echter Käse zu Analog-Käse. Gut, dass wir das wissen.

Während Oscars Eltern ob dieser Logik im Hirn des Sprosses die Augen verdrehten, schalteten die anhaltinischen Gastgeber schneller. "Oscar", der Vater von Ela Maya und Till aus Magdeburg, beugte sich vertrauensvoll über Oscars tränennasses Gesicht. "Du willst Kakaomilch, oder? Keine Milch mit Kakaopulver. Richtig?"
Oscar nickte bei jedem Wort. Endlich hatte er einen Erwachsenen gefunden, mit dem man ernsthaft reden kann. Der Erwachsene verschwand und kam zurück mit einer Flasche, die er - da sind sich die Berliner Erwachsenen sicher - außerhalb von Oscars Blickfeld kurz bearbeitete. Die zuvor weiße Flüssigkeit war nun nämlich braun.

"Oscar", der vertrauenswürdige Erwachsene kam zurück. "Ich hab im Keller noch eine Flasche Kakaomilch gefunden. Willst du davon trinken?" Oscar fand den Erwachsenen mittlerweile unglaublich gut. Er nickte, trank und war wieder glücklich.

Das Silversterfest wenige Stunden zuvor hat er allerdings nicht zu 100% miterlebt. Beide, Ella und Oscar sind irgendwann zwischen 23 und 00 Uhr eingeschlafen. Ella konnte kurz vor Mitternacht erfolgreich geweckt werden, bei Oscar musste akzeptiert werden, dass sich unter dem lauten Gegröhle des Vaters lediglich ein Augenlid öffnete, dieses aber glasig und schlafend starr in die Nacht starrte. "Guck", log das Auge "ich bin wach".

Bevor man nach Magdeburg reiste, führte der Weg nach Nordrhein-Westfalen, wo Ellas und Oscars Uroma teilweise so heftig von ihren Urenkeln angekuschelt wurde, dass man sich direkt Sorgen um den generationsübergreifenden Haufen machen musste. Als in Bergkamen dann noch die Oma samt Miet-Opa besucht wurde, tippte sie in ihr Navigationsgerät "Kindermuseum Dortmund" ein und öffnete Ella und Oscar damit Tür und Tor in einen Hektar voller Knöpfe, Stoffe, Monitore und Eimer.

Vor allem die Eimer waren von zentraler Bedeutung. Oscar musste mit ihnen ein Dorf retten. Papa erklärte in professioneller Erdkundelehrer-Manier die Grundproblematik. "Hier Oscar", man stand vor einer Drehscheibe. "Siehst du dieses Dorf mit seiner üppigen Vegetation? Toll ist das, oder?" Oscar nickte staunend. Überall grüne Bäume. Doch dann... Papa drehte an der Scheibe... (Was ihm später vom herbei eilenden Personal des Museums untersagt wurde.)
Die üppige Vegetation verschwand, ein tristes und versandetes Dorf tauchte auf. Papa erläuterte kurz Ursachen und Folgen der Desertifikation. Oscar guckte. Dann sagte Papa: Wenn du jetzt dieser blauen Linie hinterherrenst, findest du dort hinten blaue Kissen im Brunnen. Die sind das Wasser. Das musst du in Eimern herholen, dann geht es dem Dorf wieder super. Oscar entdeckte dann tatsächlich eine blaue Linie und rannte ihr nach. In der nächsten Stunde sah man im Kindermuseum Dortmund ein Kind unfassbare Leistungen vollbringen. Die Färbung des Kopfes und der Rhythmus der Atmung waren besorgniserregend, aber der Retter hielt durch. Das Dorf hatte Wasser. Für mehrere Jahre. Oscar schnappte nach Luft.

Ella, die in diesem ersten Eintrag des Jahres bislang eine Nebenrolle spielt, erlebte auch tolle Dinge. Beispielsweise hat sie viel ferngesehen, und das ist schließlich Ellas Lieblingsbeschäftigung. Dass Ella aber über irgendeinen Punkt hinausgeschossen ist in der letzten Zeit, wurde spätestens klar, als sie heute dem Vater drohte: "Entweder ich darf jetzt fernsehen oder ich verschwinde". Die Reaktion des Vaters war keinesfalls Panik, wie Ella sich vielleicht angesichts ihres angekündigten Verlassens der Familie erhofft hat. Nein, der Vater lachte und nahm sich Stift und Zettel. "Schreibst du das jetzt auf mit dem Fernsehen und Verschwinden?", fragte Ella unsicher. "Ja", sagte der Vater und hinterließ eine ratlose Tochter auf Entzug.

Entzug hatte Oscar übrigens auch. Irgendwann nämlich war Schluss mit Schokoweihnachtsmännern und dem ganzen Weihnachts-Süßkram. Der Teller, in den Oscar tagelang jederzeit hineinlangen durfte, wurde entfernt. Für Oscars Magen war dies eine Veränderung von einer Größenordnung, die nicht unterschätzt werden darf. Und so kam es, dass unser Sohn am Tag 1 nach dem Schokoladeentzug Durchfall hatte. Er verträgt das Leben ohne Süßigkeiten einfach nicht.

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