Sonntag, 2. Mai 2010

Das neue Gefährt

Ein neues Gefährt ist in unser Familienleben getreten. Wir wollen nicht so vermessen sein, vom fünften Familienmitglied zu sprechen, aber dennoch wird die Veränderung hoffentlich sehr bedeutend sein:

Denn in unserem neuen Fahrradanhänger finden beide Kinder Platz und beide akzeptieren es dort drin sogar, angeschnallt zu werden. Scheinbar ist beiden Kindern, ebenso wie den Eltern, durchaus klar, dass große Dinge geschehen können - Ausflüge zum Beispiel.

So wurde der Anhänger dann am wärmsten Tag der Woche zünftig eingeweiht. Die Hasenheide war das Ziel. Papa lernte, dass das Areal so groß ist, dass die Familienecke meilenweit von der Heroin-Austauschzone entfernt ist, während die lieben Kinder erstmal das taten, was sie beide unglaublich gut können: Essen.

Ohne Essen geht bei uns gar nichts mehr. Schlimm war, dass der Samstag ein Feiertag war. Es galt, die Flesichwurstbesände gut zu rationalisieren. "Es gibt nur Wurst für die Hand. Nicht aufs Brot", sprach Mama feierlich. Damit mussten Ella und Oscar auf das liebgewonnene Ritual verzichten, neben den vier Scheiben Fleischwurst, die sie auf ihrem Frühstückstoast mit der Akribie eines Statikers verteilen, auch noch ein fettes Stück Wurst für in die Hand gedrückt zu bekommen.

Ella hilft dann immer beim Rechnen: "Ich brauch 5 Stück Fleischwurst", aber all das war dieses Wochendende mal verboten, denn sonst wär die Wurst einfach irgendwann alle gewesen und zumindest für Oscar der Weltuntergang sehr nah gewesen.

In der Hasenheide gab es Obst. Oscar rammte sich eine Banane in den Mund, Ella schmatzte eine Melone und beschimpfte dabei die Kerne, was Mama dazu brachte, über kernlose Melonen zu sinnieren.
Mit ihrer neuen Mitgliedschaft im hiesigen Bio-Laden, der - soviel Zeit muss sein - die Menschen in 2 Klassen teilt, nämlich zahlende Mitglieder und tüchtig draufzahlende Nichtmitglieder, was den Bioladen - so die kluge Meinung des Vaters - in die Nähe des Faschismus rückt, wird das nicht zu machen sein.
Aber es ist so: Obst, das perfekt auf die Kinderansprüche zugeschnitten ist, kann nur genmaipuliert sein und zwar ordentlich. Melone ohne Kerne, Apfel ohne Schale, Mandarine ohne diese weißen Fussel... Gentechnik, übernehmen Sie!

Und dann bekamen unsere Kinder mal so richtig Auslauf. Die Wiese war rund 200 Meter in alle Richtungen gut zu überblicken, so ließen wir die beiden einfach mal losrennen. Ein Ball sollte die Richtung vorgeben. Oscar tat, was Männer und Hunde nun mal tun, wenn sie einen Ball sehen, und rannte der Kugel ordentlich hinterher.
Ella rennt zur Zeit eher ihrem Bruder hinterher, um ihn dann irgendwie zu überwältigen. Entweder will sie ihn tragen oder sie wirft ihn um. In jedem Fall läuft das zur Zeit nicht so richtig rund mit den beiden.

Wir wissen nicht so genau, was es ist. Aber zur Zeit kriegt Ella wirklich unfassbar viel Ärger von ihren Eltern, weil sie Oscar etwa im 10-Minuten-Takt umwirft oder sich sogar auf ihn draufsetzt. Lauter böse Sachen... Ellas Reaktion auf Schimpfe ist immer die Gleiche: Sie wartet darauf, dass man ihre Hand greift oder sie sonstwie berührt um dann tränenreich zu verkünden, dass sie soeben selbst zum Opfer häuslicher Gewalt wurde. Ein Dialog, den wir in dieser Woche vielleicht 50mal hörten, geht zum Beispiel so:
Elternteil: "Schimpf Schimpf Schimpf!!!"
Ella: "Aaaaaaaaaaaaaaah, du hast mir wehgetan..."

Vor der Wohnungstür steht indes das Jugendamt und überlegt, ob es einfach mal klingeln soll. Sie fänden hieb- und stichfeste Beweise: Zwei Kinder, die von blauen Flecken übersät sind und beide derzeit definitiv in einer emotionalen Stresssituation.

Die blauen Flecke stammen glücklicherweise aber vor allem vom Spielplatz. Dort gibt es seit neuestem einen neuen Profi-Rutscher. Er heißt Oscar und kann nun schon die Leiter ins höhere Niveau mit mütterlicher Hilfe erklimmen, sich dort mittels Powackeln in die richtige Position bringen und dann saust das Kleinkind hinunter. Alles ist wunderbar, nur irgendwann kommt dann Ella und hebt ihn hoch. Oder sie wirft ihn um. Oder sie setzt sich auf ihn drauf...

"Irgendwann", sagte Papa dann zu Ella, "Irgendwann ist Oscar größer als du." Ella starrte den wenig furchteinflößend aussehenden Bruder an und konnte es nicht glauben. Aber irgendwann ist es soweit, und dann wird Oscars Persönlichkeit entscheiden, ob die Rache nur zart angedeutet oder fürchterlich sein wird.

Auf dem Rückweg von der Hasenheide geschah dann derart Außergewöhnliches, dass Mama einen panischen Schrei ausstieß, was den Vater, der mit Anhänger vorneweg fuhr, sehr verwunderte, denn Mama hat im Gegensatz zu Papa niemals Panik.
Was war geschehen? Papa fuhr den Radweg entlang ohne sich der Ausmaße des Anhängers so 100 prozentig bewusst zu sein. Er passierte einen Baum, der von Steinplatten umgeben war.
"Hui, das wird knapp", dachte Papa zuversichtlich. Er hörte ein leichtes Schaben, aber an sich schien ja alles geklappt zu haben. Dann der schon angesprochene Schrei von Mama. Auch aus dem Anhänger hörte man ein Glucksen.

Der Erzählung nach hob das linke Rad des Anhängers etwa einen halben Meter ab. Sinniger Weise auf Höhe des Flughafens Tempelhof. Zum Glück hat Papa das nicht gesehen. Er wäre gestorben vor Angst.

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