Montag, 18. März 2013

Die Ufer sind Vernunft und Trieb

Ella ist die Vernunft, Oscar ist der Trieb.
Jeden Abend sitzen Vernunft und Trieb auf dem Sofa und gucken willenlos den Kinderkanal. Es kehrt dann Ruhe und Frieden ein in diese Wohnung, in der in den 10 Minuten zuvor hektisch versucht wurde, nach dem Diktat des Kinderkanals schnell die noch ausstehenden Handlungen Abendbrot essen, Zähne putzen, waschen, umziehen in Rekordzeit zu bewerkstelligen. Wie kam man nur wieder in diese Zeitnot? Schon um kurz nach 6 saß man doch am Tisch und sah vor sich Teller und Tasse stehen.

Ella und Oscar verbringen die offizielle Abendbrot-Zeit, in der ihre Eltern Unfassbares tun, nämlich essen, mit irgendwelchen Dingen, die dazu führen, dass immer erst kurz vor ultimo noch schnell ein Brot in den Mund gestopft wird. Danach wie gesagt noch Zähneputzen und Waschen, dann ist Ruhe. Der Kinderkanal übernimmt.

Mama und Papa finden sich zu dieser Zeit immer im Arbeitszimmer zusammen und starren beide auf ihren jeweiligen Bildschirm. Vier Familienmitglieder, drei Bildschirme. Wer meint, es gehe auch anders, hat keine Ahnung vom Leben.

Aber: Wir sprachen ja von der Vernunft und vom Trieb. Noch - es wird jetzt philosophisch - noch entspricht das vernünftige dem triebgesteuerten Verhalten. Noch läuft die 19:00-Serie, momentan "Wicki", in der auch Oscars personifizierte Angst, nämlich der "Freckliche Fven" eine tragende Rolle spielt.

Mama und Papa starren derweil auf ihre Monitore, hin und wieder hört man aus dem Wohnzimmer ein kurzes Lachen oder ein zitterndes Wimmern, wenn nämlich der "freckliche Fven" (Oscar) mit "seinem dicken Hintern" (Oscar) wieder irgendwelche unguten Dinge tut.

Jedes Mal aber trennt sich gegen 19:28 die Vernunft vom Trieb.
Die Vernunft nämlich weiß, dass es sinnvoll sein kann, den Fernseher irgendwann auszuschalten, damit man ins Bett gehen und schlafen kann. Am nächsten Morgen könnte man unter Umständen gut ausgeschlafen sein. Der Trieb sieht das alles anders. Der Trieb findet es jedes Mal aufs Neue entsetzlich, wenn die Vernunft auf den roten Knopf drückt und der Fernseher! daraufhin! aus! geht! Der Trieb muss fernsehen. Die gesamte Nacht.

Mama und Papa hören deshalb jeden Abend gegen 19:28 einen üblen Ton. Der Trieb schreit, denn der Fernseher ist aus. Mama und Papa eilen herbei, lassen ihre jeweiligen Monitore sträflich alleine.

Oscar sieht das oberste Schiedsgericht anrücken und versucht jeden Tag aufs Neue, das Triebverhalten gegen die Vernunft zu verteidigen: "Ella hat einfach den Fernseher ausgemacht!"
Oscar guckt entsetzt zum Fernseher, sieht ihm nach mit nassen Blick.

Manchmal zeigt er - wie zum Beweis - noch auf den pechschwarzen Bildschirm. Das Schiedsgericht, dies ist in der Mimik des natürlich auch vollkommen übermüdeten Oscar erkennbar, wird schon auf seiner Seite sein. Es kann hier keine zwei Meinungen geben. Ella hat schließlich den Fernseher ausgemacht! Das geht nicht.

Zu Oscars allabendlicher Irritation wird Ella, die brave Vernunft, an dieser Stelle von ihren Eltern immer knapp gelobt. Es ist ein Haushalt der Vernunft, Oscar hat es schwer bei solchen Leuten. Ella wächst im Anschluss vollkommen zurecht ein Heiligenschein, während Oscars Aufheulen schnell durch das Vorlesen diverser Lektüren abgemildert werden kann.

Überhaupt das Lesen. Bildungsbürger wollen nicht nur geboren, sondern auch gebildet werden. Und so kaufte Papa, der selber keine Ahnung von griechischer Mythologie hat, zu genau diesem Thema ein Kinderbuch, damit er im Deutschunterricht wenigstens im Ansatz soviel weiß wie all die Streberkinder aus den bildungsnahen Familien.

Ella und Oscar hörten begeistert zu, wie Papa sich selbst das Kinderbuch vorlas. Holla. Da ging es hoch her im alten Griechenland: Ella und Oscar wissen jetzt, dass Thanatos, der Tod, ein drei Meter großes Gerippe ist und sich die Menschen holt. Zur Verdeutlichung rennt Oscar nun gerne mal durch die Wohnung. Er rennt am Sofa los, schreit "Der Tod ist doch so groß, ne?", rennt in sein Zimmer, bleibt an einer sehr bestimmten Stelle stehen und dreht dann um. Es ist die Stelle des Todes. Oscar selbst erbleicht bei diesem Grusel-Rennen.

Auch andere furchtbare Dinge ereigneten sich in Griechenland. Oscar findet es ernsthaft super. Ella testet beim Hören der Geschichten ihre relativ niedrige Toleranz bezüglich des drei Meter großen Gerippes oder auch dem furchtbaren Minotaurus, der jedes Jahr rund 10 Menschen verspeist.

Zur Erweiterung der frühkindlichen Kulturbildung wurden Ella und Oscar auch mal wieder mit Balladen konfrontiert. Papa gab den "Erlkönig".
Die Stimme des Kindes war ängstlich, die des Erlkönigs debil-zärtlich. Der Vater überspielte nur schlecht seine Angst.
Papa rezitierte. "Mein Vater! Mein Vater! Jetzt fasst er mich an!" Papas Stimme überschlug sich. Ella bohrte sich verzweifelt ins Kopfkissen. Oscars Mund stand sperrangelweit offen, er taumelte zurück. Es war eine Ballade wie ein Peitschenhieb.
Ähnliche Effekte stellten sich auch beim "Ribbeck im Havelland" und bei "John Maynard" ein.
Schnell wurde das Playmobil-Schiff geholt.

Die eben vernommenen Informationen bezüglich des Schiffsunglücks, bei dem John Maynard starb, wurden mit den anderen beiden wichtigen grausamen Schifffahrten, nämlich der der Titanic und der der Arche Noah, verwoben und zu Oscars kindlichem Spiel. Oscar steht auf sowas. Triebhaftes Verhalten halt.









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