Dienstag, 3. Juli 2012

Bericht aus dem Exil

Dieser Text stammt aus dem Exil. Das Chaos der Wohnung, die momentan der Übersicht halber „die alte Wohnung“ heißt, verließen wir, konnten aber noch nicht in das Chaos der neuen Wohnung einziehen. Ella, Oscar und ihre Eltern flüchteten deshalb in den Garten, wo sie interessanterweise feststellen mussten, dass der Dachdecker an ihrem Gartenhaus zugange war und für eine kleine Baustellenatmosphäre sorgte, auf die die dynamische Familie derzeit extrem allergisch reagiert.
Anders gesagt: Wir waren weltweit wohl die einzigen Menschen, die quasi über drei Behausungen verfügen, die aus einer organisatorischen Dummheit heraus jedoch alle drei derzeit Baustellen sind. Der Dachdecker aber ist ein Mann von sensibler Wahrnehmung und so schlug er vor, nachdem er sich das Leid der Flüchtlingsfamilie (, die mit dem nötigsten Hab und Gut im Rucksack in ihren Garten fiel,) anhörte und vor allem in die aschfahlen Gesichter der vom Umzug Gezeichneten sah, dass er theoretisch auch eine Dachdeckerpause einlegen könne. Müde nickte der Vater und half beim Abbauen der Baustelle Das Dach ist soweit dicht“, sprach der Dachdecker noch, als er mitsamt der Baustelle von Dannen zog.
Über diesen Satz dachten in der folgenden Nacht drei Personen noch recht lange nach. Oscar, soviel sei angedeutet, gehörte nicht dazu, denn Oscar schlief tief und fest in einer Nacht, die aufgrund eines nachrichtenrelevanten Unwetters eine Drohkulisse erzeugte, die grob an die Bombardierung durch eine feindliche Luftwaffe erinnerte. Blitze schlugen in einer Entfernung von wenigen hundert Metern keck mal hier mal dort ein. Papa war minutenlang irritiert und zutiefst verängstigt, weil er sich noch im Einfluss eines doofen Traumes in einem Zelt wähnte und lange grübelte, was die Raufasertapete in seiner Hand zu bedeuten habe, ehe ihm gewiss wurde, dass er in seinem Gartenhäuschen steht. Währenddessen tobte draußen das Gewitter. Oscar schlief.
Glück hatte das friedlich schlafenden Kind, dass ihn weder ein Blitz traf, was unwahrscheinlich war, noch dass ihn der immer noch vollkommen orientierungslose und fast panische Vater erschlug, als er sich zurück ins Bett warf, welches – Trugschluss a) – nicht im Zelt, sondern im Gartenhäuschen stand, und welches – Trugschluss b) – keinesfalls leer war, sondern von einem kleinen lieben Jungen, der bei Krieg schlafen kann, bereits in Beschlag genommen wurde. Die Wucht des ins Bett zurückfallenden Vaters verfehlte Oscar zum Glück und auch die Blitze verfehlten uns, sodass wir zufrieden in die Welt herausposaunen können, dass wir hier nach wie vor zu viert unterwegs sind. Ohne Bleibe zwar, aber mit einem schlagenden Herzen in der wackeren Brust. Das Dach hielt tatsächlich dicht, der sensible Dachdecker hatte Recht.
Der liebe kleine Junge, der in dem Unwetter-Inferno, von welchem wir soeben berichteten, eine Nebenrolle spielte, ist derzeit übrigens vor allem in Gewitternächten sehr lieb und angenehm im Umgang.
Tagt es aber, so ist es schnell mal vorbei mit Oscars Freundlichkeit. Fast ist es uns zu unangenehm, Einzelheiten von Oscars grobem Fehlverhalten hier zu veröffentlichen, aber es muss sein, damit wir später einmal augenzwinkernd unserem im Nachhinein überaus gelungenen Sohn vorlesen können, wie ungut verschiedene Dinge liefen, als er dreieinhalb war. Oscar nämlich riss in diesen Tagen einerseits Tapete im Gartenhäuschen von der Wand, was der Vater vor lauter Aufgebrachtheit nur unter großen Mühen psychologisch als „Kompensation des Schnullers“ deuten konnte, während die Mama, statt zu deuten, Mehl anrührte und die Tapete mithilfe eines mittelalterlichen Kleisters wieder in Position brachte. Andererseits setzte sich Oscar lobenswerterweise aufs Töpfchen, kippte jedoch nach Vollzug den braunen Töpfchen-Inhalt mitten auf den Rasen. Es ist derzeit schier unbegreiflich, wie zielsicher daneben sich unser Sohn benehmen kann.
Wie einig sich die gesamte Welt darüber ist, wird auch klar, wenn man sich vor Augen führt, dass die Erzieherin in einem Elterngespräch lächelnd, doch überraschend direkt, in die Gesichter der Eltern sprach „Oscar ist eine Arschmade“ und niemand der anwesenden Eltern es wagte, zu widersprechen. Im selben Gespräch, das im Übrigen eigentlich von Ella handeln sollte, nannte die Erzieherin unseren Sohn auch „Sonnenschein“. Dieses in der Wissenschaft als „Oscisches Paradoxon“ bekannte Phänomen trifft den Nagel auf den Kopf: Oscar ist großartig und furchtbar zugleich. Er ist wie „supergeiles Wetter“, welches sich dann in Wahrheit als furchtbar viel zu heiß herausstellt und mit einem Gewitter endet – hier schließt sich der Kreis, denn seit wir im Garten wohnen, gewittert es jede (!) Nacht.
Kommen wir noch zu Ella. Wir bleiben aber beim Gespräch mit der Erzieherin. Diese meint, neben diversen Großartigkeiten unserer Tochter ein eher nüchternes Geschwisterverhältnis zwischen ihr und Oscar zu beobachten. Repräsentativ stehe hierfür ein Satz von Ella, der sich schnell in ihre Liste der fantastischsten Sätze, die man an als Erzieherin so hört, gespielt hat:
Ella wurde in der Kita gefragt, wer denn Oscar sei. Man erwartete gefühlsschwangere Adjektivreihen, die Ellas tiefe Liebe zu ihrem Bruder prosaisch nicht endgültig definieren, wohl aber andeuten könnten. Und was antwortete Ella? Sie sagte: „Der wohnt bei uns“.
Der wohnt bei uns! Richtig. Und er kippt seine Losung auf unseren Rasen und er reißt uns die Tapete von der Wand. Und lieb haben wir ihn trotzdem. In der Wissenschaft heißt das „Oscisches Paradoxon“ oder so...

In den nächsten Tagen geht’s weiter rund: Ella wird sechs. Einen Tag später entern wir die neue Wohnung. Mal sehen, wann wieder gebloggt wird..

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