Montag, 16. April 2012

Der uninformierte Informant

Unsere Tochter hat drei Puppen. Sie hören in der Reihenfolge ihrer zunehmend groteskeren Namen auf Lea, Li-ena und Loa. Diese Reihenfolge entspricht im Übrigen auch ihrem Äußeren, denn während die Puppe mit dem schönen Namen (Lea) auch äußerlich recht ansprechend und von angenehmer Größe ist, ist Li-ena zu klein, als dass man sie ernst nehmen könnte und Loa - passend zu ihrem Namen - ein ganz dicker Brocken, ein Riesenbaby. Ellas Sympathien gehören von daher im Wesentlichen auch nur Lea.

Nie, das war Mama und Papa schon sehr lange bewusst, dürfe Lea etwas zustoßen. Die Krise, in die Lea unsere Tochter mittels Verschwinden oder Kaputtgehen stürzen kann, ist in Worten nicht zu beschreiben. Und doch muss es an dieser Stelle versucht werden. Lea nämlich verschwand in exakt dem Moment aus Ellas Blickfeld, als sich die Türen des Kinderladens für mehr als eine Woche schließen sollten.
Lea befand sich leider irgendwo im Kinderladen. Gut versteckt, wie sich später herausstellen sollte.

Zuhause war soweit alles in Ordnung. Ella ging souverän durch die schönen Tage der Osterferien. Nachts aber fehlte es an allem. Vor allem fehlte Lea. Und so gewöhnte sich Ella in den Lea-losen Tagen an, abends und nachts im Bett alle 10 bis 20 Minuten zu weinen und die Einsamkeit in ihrem Hochbett ganz grundsätzlich zu hinterfragen.

Jubel brach deshalb aus, als Mama, nachdem Vermisstenanzeigen per Mail und einige großangelegte Suchkampagnen nicht zum gewünschten Erfolg führten, nach bangen Tagen des Wartens Lea hinter irgendwelchen Matratzen des Kinderladens fand. Nun würde nachts wieder Ruhe einkehren.

Falsch: Ella ist seit Ostern nämlich voll drin im "Ich-kann-nicht-alleine-schlafen-Modus". Oscar liegt im selben Zimmer und ist dabei mit seinen drei Jahren so verständnis- und rücksichtsvoll, dass es schier unglaublich ist.
Gestern Abend belauschte er zwangsläufig Ella beim Vortragen ihres Forderungskataloges: Da war unter anderem von "mehr Licht" die Rede.

An dieser Stelle schraubte sich der fast schon schlafende Oscar in Richtung der eigenen Nachttischlampe und knipste diese an. "Hoffentlich ist die jetzt ruhig" denkend, drehte er sich weg und versuchte die Augen zu schließen, das Gejammer seiner Schwester hielt aber leider an.

Heute dann schlug Oscar vor, man möge doch eine CD einlegen. Oscar hasst zwar das abendliche CD-Hören, aber - da erinnerte er sich ganz richtig - auch das war eine von Ellas Forderungen, ohne deren Erfüllung sie derzeit nicht schlafen kann.

Gestern war ihr Papa beispielsweise für rund 15 Kurzdialoge mit "Küsschen" und "Licht an" und "MP3-Player an" und "Buch her" und "Zudecken bitte" und "Nochmalgutenachtsagen" bei Ella am Bett. Beim 16.Mal sagte er aus dem Arbeitszimmer heraus "Nein". Ella erbrach daraufhin vor Wut. Sie erbrach. Das Mädchen ist fünfdreiviertel. Jahre.

Lea aber, nun wieder im Kreise der Familie, sollte noch einmal eine wichtige Rolle in dieser Woche übernehmen. Am Samstagabend nämlich musste ein Geburtstagskuchen gebacken werden. Lea half mit. Und da es Ella ist, die für die Unversehrtheit dieser Puppe zuständig ist, stürzte Lea kopfüber in den Kuchenteig.
Am nächsten Tag schmeckte dieser dennoch ganz fantastisch. Vor allem Oscar war verwundert, denn - mit dem Auftrag, alle Informationen bezüglich des Geburtstagskuchens dem Vater zu verschweigen ausgestattet - trompetete Oscar unverzüglich in die Welt und in Papas Ohr hinein, dass soeben ein Zitronenkuchen erstellt wurde.

Papa wunderte sich ein wenig, da seine Leidenschaft für Zitronenkuchen selbst ihm bislang verborgen blieb, aber Ella und Mama waren mit dieser Art der Informationspreisgabe sehr zufrieden, denn es handelte sich keinesfalls um Zitronenkuchen, sondern um den von großen Teilen der Familie tatsächlich innig verehrten Mohnkuchen. Nun möge sich jeder die Frage selber beantworten, wie es möglich ist, dass Oscar dem gesamten Backvorgang beiwohnt und trotzdem nicht kapiert, dass ein Mohnkuchen entsteht, wie es zudem möglich ist, dass Oscar denkt, es handele sich um einen Zitronenkuchen, doch war dies allen egal, denn wenn jemand geheime Informationen schon nicht für sich behalten kann, dann ist es ganz gut, wenn derjenige die Informationen völlig unzureichend aufnimmt und deshalb nur Unsinn ausplaudert.

Oscar weigerte sich an diesem Abend übrigens noch, seine Cornflakes aufzuessen. "Dann gibt es morgen keinen Kuchen!", drohte Mama. Oscar konnte dieses Risiko jedoch locker eingehen. Schließlich hat Mama nur einen Zitronenkuchen gebacken und keinen richtig tollen Kuchen, wie Schokoladenkuchen oder Mohnkuchen. Oscar jedenfalls war einverstanden.

Am nächsten Morgen feierte man des Vaters Geburtstag. Ein toller Mohnkuchen stand auf dem Tisch und wurde verteilt. Ella bekam ein Stück, der Geburtstagsvater bekam ein Stück und Mama bekam ein Stück. Oscar fand vor sich den Teller Cornflakes vom Vorabend.

Und ehe wir den Lesern versprechen, dass der kleine Junge dann auch ganz schnell ein Stück Mohnkuchen bekam, möchten wir, dass sich alle zunächst das zerknitterte Gesicht dieses Jungen vorstellen, als diesem Gewahr wurde, dass er sich bei der Sache mit dem Zitronenkuchen getäuscht hatte.

Vom Geburtstag des Vaters ist ansonsten zu berichten, dass die Mama es wagte, als Tagesprogramm eine 210minütige Bootsfahrt durch den Landwehrkanal und die Spree zu organisieren. Das Schiff passierte 63 Brücken. Mama, Papa und Oscar hatten großen Spaß.

Ella aber war ungefähr nach der siebten Brücke schrecklich langweilig. Am Ende musste sie sogar weinen. Liebevoll schleuderte sie ihre Puppe Lea herum. Lea ging nicht über Bord. Ella auch nicht. Furchtbar war es dennoch für beide - eine wahre Folter.
Oscar litt erst einen Tag später. Im Kinderladen gab es einen Unfall, bei dem Oscars Mund und ein Stuhl die Hauptrollen spielten. Oscar hatte die dickste Lippe der Welt und sieht nun - Stunden später - noch immer deformiert aus. Die Zahnärztin hat aber ihr Okay gegebnen. Und Oscar hält ja nun auch nicht so viel vom Jammern wie seine Schwester: deformiert aber fröhlich beging er den Abend.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen